Das Leben der Romnja in Cidreag

Mein Name ist Leoni, ich bin 22 Jahre alt und war von Januar bis März 2022 Praktikantin bei BuKi. Gemeinsam mit Tess, einer weiteren Praktikantin aus Stuttgart, erlebte ich viele besondere Momente und Abenteuer. Zusammen gewannen wir viele neue Eindrücken dazu, die uns bewegten und die wir mit in unser Leben nach Hause nehmen werden.

Wir kamen nicht nur mit den Roma-Kindern in Kontakt, sondern auch mit ihren Eltern, vor allem den Müttern. Als zwei junge Frauen aus Deutschland tauchten wir in eine neue Kultur und Lebensweise ein. Für uns war besonders das alltägliche Leben der Romnja (mehrere Roma-Frauen) im Dorf ein Thema, das uns sehr bewegte, da es ein völlig anderes als das unsere ist. Die Unterschiede sind so groß, dass sie gar nicht so einfach zu beschreiben sind.

Zwei konträre Welten, die aufeinander treffen – so könnte man die ersten Begegnungen zwischen den Romnja und uns beschreiben. Die beiden Studentinnen aus der deutschen Großstadt und die Roma-Frauen aus Cidreag, die in so anderen Kulturen leben, trafen dabei aufeinander. Nicht nur äußerlich wurde direkt ein Unterschied deutlich. Doch was genau unterscheidet uns von den Frauen aus Cidreag?

Lange Röcke, Schultertücher mit Fransen und bunte Kopftücher unter denen sie ihre lange dunkle Haarpracht verstecken – so stellt man sich eine klassische Romni (eine einzelne Roma-Frau) vor. Dieses verfestigte Bild trifft keineswegs auf alle Frauen der Roma-Kultur zu. In Cidreag werden Teile der Roma-Kultur von den meisten Roma-Frauen weiterhin vertreten und gelebt. Die wenigsten Tragen zwar noch die traditionellen Gewänder, doch die meisten erwachsenen Frauen tragen im Alltag Röcke und binden ihre langen Haare zu Zöpfen.

Wir haben das Gespräch zu den Frauen im Ort gesucht, um uns ein klareres Bild über das Leben der Romnja machen zu können. Wir wurden sehr freundlich empfangen und ich hatte sogar den Eindruck, einige Frauen freuten sich über das Interesse an ihrer Lebensgeschichte als Romni in Cidreag. Eines der wohl am meisten diskutierten Themen in der Roma-Kultur ist das Familien- und Liebesleben, das sich so stark von dem in unserer westlichen Gesellschaft zu unterscheiden scheint.

Wenn sich Teenager vermählen

In der Roma-Kultur ist es selbstverständlich, dass sich Teenager vermählen und Mädchen im Alter von bereits 14 Jahren Kinder bekommen. Mir selbst kamen Geschichten über 12-jährigen Mädchen zu Ohren, die Partnerschaften mit 24- Jährigen eingingen und fortführten. Mit der Brille einer deutschen Studentin betrachtet und auch mit den moralischen und rechtlichen Normen der Heimat im Hinterkopf, steht man diesem Verhalten skeptisch und zum Teil sogar verurteilend gegenüber.

Auch wenn aus rechtlicher Perspektive eine Hochzeit von Minderjährigen in ganz Rumänien über keine legitimierte Basis verfügt, so ist es in Cidreag im Roma-Viertel keine Seltenheit, dass sich Kinder vermählen. In der Roma-Kultur gilt ein paar allerdings bereits als verheiratet, wenn es zusammenzieht. Die wenigsten Paare sind also vor dem Gesetz verheiratet. Oft habe ich mich gefragt, was die Kinder veranlasst, sich so früh auf einen Partner festzulegen und diesen großen Schritt zu wagen, der in der Regel eine Schwangerschaft mit so jungen Jahren und ohne einen guten finanziellen Hintergrund bedeutet.

Der Impuls kommt von den Mädchen selbst

Nach Gesprächen mit einigen Müttern der BuKi-Mädchen, von denen viele selbst bereits mit 14 Jahren ihr erstes Kind zur Welt brachten, wird jedoch klar, dass der maßgebliche Impuls von ihnen selbst kommt. In dieser Frage sehen die Mütter, wie auch Väter, das Kind als eine selbst bestimmte Person an, die diese Entscheidungen im Leben selbst zu treffen hat. Aus diesem Grund tolerieren die Erziehungsberechtigten meist jegliche bindende Entscheidung der Kinder, auch im Falle von subjektiv weniger gewünschten Beziehungen.

Viele Familien leben auf engstem Raum, speziell die Pubertierenden brauchen mehr Platz, mehr Freiraum und vor allem ein eigenes losgelöstes Leben. Der beste Weg, um dieses Ziel schnellstmöglich erreichen zu können, ist die Partnerfindung. Nachdem ein, für den Moment passender Freund gefunden ist, wird die Sache in der Familie abgeklärt. Anschließend zieht das junge Paar oftmals in einen Anbau am Haus der Eltern des Ehemanns.

Die Hochzeitsfeier krönt das Zusammenfinden der Verliebten und aus dem jungen Mädchen wird zuerst eine Ehefrau und im Normalfall kurze Zeit später auch eine junge Mutter. Von einer Zwangsheirat kann man keineswegs sprechen, denn die Intention des Auszugs aus dem Elternhaus und dem Start ins eigene Erwachsenenleben geht von dem jungen Mädchen selbst aus.

Der Generationswechsel und die Zuarbeit von BuKi im Bereich Familienplanung geben einem Umdenken in den Köpfen der Mädchen Raum. Es bleibt zu hoffen, dass mit dem Wandel der Zeit eine Umgestaltung in der Gesellschaft von Cidreag stattfinden kann. Ich wünsche mir für die Roma-Mädchen, dass sie Zeit haben, selbst Kinder zu sein und dass sie die Chance haben, durch Bildung und Wissen, andere Ziele zu verfolgen als nur den Auszug aus dem Elternhaus.

Natürlich freuen sich alle über den Nachwuchs im Dorf, doch eine junge Frau ohne Chance auf Bildung, die nur Mutter ist, hat kaum Perspektive und viele verfallen zeitig in Selbstaufgabe. Genau das möchte BuKi verhindern und den jungen Frauen Perspektiven aufzeigen, die Bildung und Familie vereinbaren und auch die persönliche Erfüllung nicht außen vor lassen.

Wie erleben jungen Mädchen das Liebesleben

Wenn man über Familienplanung und Nachwuchs spricht, kommt natürlich auch das Thema Sex in das Gespräch. Viele Fragen geistern dann im Kopf umher, die man möglicherweise gar nicht so ohne weiteres ansprechen kann. In unserer Gesellschaft und im Freundeskreis zählt Sex mittlerweile fast schon zum alltäglichen Small-Talk. Aber wie ist es denn hier, in einem Dorf, wo 14-jährige Mütter werden und 35-jährige selbst bereits 5 Kinder haben? Wird hier von Liebe gesprochen und ist Sex dann auch ein Akt der Liebe oder reine Zweckmäßigkeit? Inwieweit kann eine 12- Jährige diesen Umstand überhaupt beurteilen? Und vor allem, haben die Mädchen und Frauen freiwillig Sex?

Bei all diesen Fragen steht zumindest eines fest: eine allgemeine Antwort gibt es nicht! Derart pauschalisierende Grundannahmen über das Privatleben der Romnja aufzustellen, wäre mehr als verwerflich. Wir haben mit einigen Frauen das Gespräch gesucht. Im weiteren Verlauf handelt es sich um eine exemplarische Darstellung, wie sie sich uns aus den Gesprächen ergeben hat:

Nala, Ende Zwanzig, hat mittlerweile 4 Kinder. Ihr ältester Sohn ist 16 Jahre und ihre jüngste Tochter feierte kürzlich ihren dritten Geburtstag. Auf die Fragen nach ihrem Sexleben reagierte sie überraschenderweise sehr aufgeschlossen. Sie erzählte, dass sie ihren ersten Geschlechtsverkehr mit 13 Jahren hatte. Sie hatte sich in einen Jungen aus dem Dorf verschaut und wusste, dass Sex zu einer Beziehung, wie Nala es sich auch wünschte, dazugehört.

Woher sie dieses Vorwissen hatte, kann sie nicht mehr sagen. Nach ihren Aussagen war diese Tatsache auch allen anderen Mädchen in ihrem Umfeld und Alter bewusst.  Nala, war allerdings nicht klar, was auf sie zukommen würde, sie wurde jedoch keineswegs zum Sex gezwungen. Sie erzählte, dass sie sich selbst damals wenig Gedanken um den Moment machte. Auch die Jahre danach hinterfragte sie nie, ob sie den Sex selbst gewollt hatte, oder ob sie wirklich emotional bereit war. Die mittlerweile Erwachsene erzählte, dass Sex in dem Alter einfach dazugehörte, etwas Normales war, wie beispielsweise auch die erste Periode oder im Haushalt zu helfen.

Junge Partnerschaften und das Mutterwerden gehört einfach dazu. Dass dies zu Bildungsdefiziten und damit einem Lebensweg ohne große Abzweigungen außerhalb des Mutter sein führt, scheint akzeptiert zu sein. Wir haben uns oft gefragt, ob die Mädchen kein Bewusstsein für andere Optionen haben, oder ob Ihnen nicht klar ist, was das frühe Mutter werden für ihr weiteres Leben bedeutet. Denn frühe Schwangerschaften und das Einnehmen der Rolle einer Hausfrau in diesen jungen Jahren, hindert die Mädchen daran, die Schule zu besuchen und einen Bildungsabschluss zu erreichen.

Aus den Gesprächen wird deutlich, dass die langfristige Wirkung ihres Handelns den Mädchen weitgehend nicht bewusst ist. Es stellt vielmehr eine Normalität in den Strukturen der Roma in Cidreag dar.

Auch wenn die überwiegende Mehrheit der Romnja in Cidreag noch dieses Leben lebt, so ist ein langsames Umdenken der Mädchen bemerkbar. Unter anderem aufgrund der Aufklärungsprogramme von BuKi. Sie richten sich sowohl an die Mütter als auch an die Töchter. Erstmals werden Stimmen von Mädchen gehört, die von Schulabschlüssen sprechen und dem Leben, was die Ungarn und Rumänen führen.

Welche Rolle spielt das ausgeprägte Patriarchat

Ein weiteres Thema, welches in diesem Zusammenhang aufkommt, ist die Unterdrückung der Frau mit Blick auf das Patriachat in Cidreag. Bereits vor dem Praktikumsbeginn hatten Tess und ich ein Bild der Umstände im Kopf, entstanden durch die oftmals übereifrigen Annahmen und Pauschalisierungen aus der Heimatwelt. In diesem Bild zeichnete sich ein Stellenwert der Frau ab, der noch weit entfernt von der Emanzipation der westlichen Welt ist. Mit unserem Praktikum bei BuKi hatten wir die Chance, den Vorurteilen über das Patriarchat in der Roma-Kultur auf den Grund zu gehen.

Der soziale Druck im Viertel ist enorm

In Cidreag mit der achten Klasse die Schule abschließen, oder gar nach Satu Mare auf eine weiterführende Schule gehen, zu viel Haut zeigen, ein individuell ausgelebtes Sexualleben, in der Öffentlichkeit mit fremden Männern sprechen – geschweige denn feiern, entgegen den Erwartungen keine Familie gründen und stattdessen Karriere machen – das sind Optionen, die für Frauen in Cidreag nicht in Frage kommen.

Der soziale Druck und die Gefahr im Viertel ausgegrenzt zu werden ist enorm. Nala etwa, war mit einem Mann aus dem Viertel zusammen, der von ihr sehr freizügige Bilder machte und sie mit Männern im Viertel teilte. Als alleinerziehende Frau aus dem Roma-Slum steht sie in der Roma-Hierarchie an unterer Stelle mit den Bildern war ihr Ruf endgültig dahin. Darunter leidet sie bis heute.

Women support Women wird in Cidreag nicht gelebt

Doch wie ist es, ein schwarzes Schaf der Roma-Gemeinde zu sein? Wer grenzt denn nun tatsächlich aus? Im Fall von Nala, von der einige aufreizende Bilder durch die Hand eines unmoralischen Mannes weitergereicht wurden, brach die Ächtung von allen Seiten auf die arme Frau nieder. Der Ansatz „Women support Woman“ ist in Cidreag leider ein Fremdwort. Denn die Frauen, die sich gemeinsam gegen die Unterdrückung des Mannes wehren könnten, sind ein genauso großer Teil dieses anti-feministischen Systems.

Die Unterdrückung der Frauen ist den Frauen in Cidreag nicht bewusst

Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind und über unseren vermeintlich perfekten feministisch-aktiven Instagram-Feed hinausblicken, da stellt sich doch die Frage, ob unsere Gesellschaft nun wirklich besser ist, oder sich ausschließlich besser vermarktet. Hin oder her, die Unterdrückung der Frau ist aus unserem Blickwinkel ein immer noch sehr dominantes Problem in Cidreag, welches den Frauen vor Ort selbst nicht bewusst zu sein scheint.

Der Mann gibt die Richtung an, er bringt in der Regel das Geld nach Hause, im Haushalt krümmt er meist keinen Finger und ganz grundlegend hat er auch immer Recht. Bei diesen Aussagen darf nicht außen vorgelassen werden, dass Ausnahmen die Regel bestätigen, denn es gab auch einige Ehemänner und Väter, die sich herzzerreißend liebevoll um ihre Familien bemühten. Man darf nicht vergessen, dass die westliche Welt sich vor weitaus weniger als hundert Jahren ebenfalls diesem patriarchalen System fügte. Und nur weil der Stellenwert der Frau im Roma-Viertel noch nicht mit dem der westlichen Welt auf eine Stufe zu stellen ist, heißt das nicht, dass es dort Frauen gibt, die sehr zufrieden und glücklich mit ihrem Leben sind.

In Cidreag ist es nicht leicht eine starke Frau zu sein

Wir haben nicht das Recht mit dem erhobenen Finger vor den Roma-Frauen zu stehen und ihnen zu erklären, wie sie sich verhalten müssten. Denn was unterscheidet uns dann noch von den Männern, die genau das machen? Für ein Umdenken und eine Umwälzung der sexistischen Gesellschaftsstrukturen benötigt es keine Besserwisserei. Es benötigt eine Annäherung an die Frauen vor Ort und ein Verständnis für das Frauenbild, das sie selbst von sich haben. Aus meiner Sicht ist es an einem Ort wie Cidreag nicht leicht, eine starke Frau zu sein.

Dennoch sah ich unfassbar viele Frauen, bei denen mir nichts anderes übrigblieb, als meine wahre Bewunderung und Anerkennung auszusprechen. Viele Männer verlassen ihre Familien in Cidreag, um einen Job im Ausland anzutreten, oder ein neues Leben zu beginnen oder aus ganz vielen weiteren unterschiedlichen Gründen. Zurück bleibt eine Frau mit ihren Kindern, in einer kleinen Ein-Zimmer-Wohnung ohne jegliche Ressourcen oder eigenes Einkommen. Im besten Fall dieser ausweglosen Situation, schickt der Ehemann der Frau einmal Geld im Monat zu. Dabei muss bedacht werden, dass das Wirtschaften, ohne rechnen zu können, eine zusätzliche Herausforderung darstellt.

Während ich Hausaufgaben machte kämpfen junge Roma-Mädchen in Cidreag um das Überleben ihrer Familie

Schlussendlich müssen die Alleinerziehenden die Erziehung, den Haushalt und das eigene Überleben, wie auch das der Kinder bewältigen. Wohlbemerkt werden Frauen oftmals in einem Alter mit solchen Problematiken konfrontiert, in dem ich ausschließlich die Hausaufgaben selbst organisieren musste und für mein Abitur gelernt habe.

Die Roma-Frauen in Cidreag haben nicht das Privileg, sich aussuchen zu können, wer sie heute sind und morgen vielleicht sein wollen.

Während wir Frauen aus der westlichen Welt, immer mehr die Möglichkeit und Freiheit haben, uns in verschiedenen Interessen, Talenten und Hobbies auszuprobieren, um zu erkennen in welche Richtung wir uns später frei entfalten wollen, lasten unfassbar viele Pflichten und Verantwortungen auf den Schultern der Frauen in Cidreag. Sie haben nicht die Zeit und Möglichkeit, sich selbst kennenzulernen so wie wir es handhaben. Sie haben nicht das Glück, auch einmal Fehler machen zu dürfen, ohne direkt Verurteilung erfahren zu müssen. Und sie haben nicht das Privileg sich, aussuchen zu können, wer sie heute sind und morgen vielleicht sein wollen.

BuKi gibt Mädchen eine Möglichkeit, sich in ihre Richtung zu entwickeln.

Speziell die Stärken und Talente der jungen Mädchen werden wahrgenommen und gefördert. Es soll ihnen die Welt außerhalb des kleinen Roma-Viertels gezeigt werden. Neue Perspektiven werden den Mädchen gezeigt, ohne ihre eigene Welt dabei zu entwerten. Denn genauso wie ich, hat ein Jeder der Mitwirkenden im BuKi- Haus großen Respekt vor den Romnja in Cidreag.

Die Mütter werden bestmöglich unterstützt, wie beispielsweise durch eine Begleitung zum Frauenarzt oder Events, wie dem Frauentag am 8. März. An diesem Tag werden im BuKi-Haus alle Frauen gefeiert und gemeinsame Programme mit den Kindern finden statt. Tess und ich waren selbst vor Ort, um an dem Spektakel teilzunehmen und erfuhren wahre Wertschätzung in unserer Rolle als Frau.

Viele Mütter engagieren sich auch außerhalb der Gruppenzeiten, da sie eine enge Verbundenheit zum BuKi-Haus verspüren. Mit dem derzeitigen BuKi-Team, welches aus fünf unfassbar motivierten Power-Frauen besteht, und den vielen Praktikant*innen und Volontär*innen könnte Cidreag keine bessere Chance auf einen Wandel haben. Und auch, wenn eine Neuorientierung der weiblichen Rolle im System der Roma und Romnja noch einige Zeit brauchen wird, scheint er mir aus meiner Perspektive keineswegs unmöglich.