Mit unseren BuKi-Kindern im Gespräch

Mit unseren BuKi-Kindern im Gespräch

Gäste, Freiwillige und PraktikantInnen aber auch wir selbst, die Kolleginnen und Kollegen im BuKi-Haus, werden im täglichen Miteinander von uns ‚Weißen‘ und den Roma in Cidreag mit Lebenswelten konfrontiert, die man möglicherweise so nicht erwartet hätte.

Es stehen Fragen im Raum, die uns gegenseitig interessieren, die aber unbeantwortet bleiben. Fragen, von den BuKi-Kindern, von Roma-Frauen und -Männern, mit denen wir zusammen sind, aber auch von uns an sie – zur Familie, den Berufen und Beziehungen, Lebenssituationen und -perspektiven.

Ein besonders Spannungsfeld ergibt sich wenn junge Frauen als Freiwillige oder Praktikantinnen bei BuKi auf junge Roma-Frauen treffen. Die Lebenssituationen könnten unterschiedlicher nicht sein.

Im Mai 2022 waren die Praktikantinnen Charline Wagner und Sarah Schmid sowie als Freiwillige die Schwestern Lisa und Maria Umann im BuKi-Haus. Wir haben dazu Gesprächsrunden mit jungen Roma-Frauen sowie BuKi-Jugendlichen organisiert.

Begleitet und übersetzt wurden die Gespräche von unseren Kolleginnen Greta Marcu und Vanda Raimer.

Beachtet in diesem Kontext auch: 

Frau Sein
Das Leben der Romnja in Cidreag

Autorin: Leoni Becker, Praktikantin bei BuKi
Hier der Link zum Text

Die Bürde des Antiziganismus
Bildungsbegleitung und Armutsbekämpfung im Spannungsfeld der Roma-Lebenswelten.

Autor: Stefan Zell, 1. Vorsitzender BuKi e.V.
Hier der Link zum Text 

Let’s talk about Sex

Text von Maria Umann, Freiwillige im BuKi-Haus

Das war natürlich nicht die Überschrift unserer Veranstaltungsreihe mit Frauen und Teenagern am 17. und 18. Mai im BuKi-Haus. Vermutlich wäre unserer Einladung mit dieser Überschrift zur gemeinsamen Gesprächsrunde keine Roma-Frau und kein Teenager gefolgt, aber implizit war es unser Ziel, darüber zumindest durch die Blume zu sprechen.

Im Vordergrund der Gesprächsrunden stand vornehmlich der Austausch zu den Themen Lebensplanung, Familie, Jugend, Ausbildung, Beruf, Wohnen, Freizeit und Beziehungen. Letzteres war so ausgelegt, dass Sex und Verhütung zur Sprache kommen konnten.

Vorbereitet hatten diesen Austausch wir Praktikantinnen bzw. Volontärinnen Charline (24), Sarah (23), Lisa und Maria (beide 28) gemeinsam mit der Koordinatorin Greta und Psychologin Vanda.

Mit Roma-Frauen im Gespräch

Frauen im Gespräch zu ihrer Lebenssituation, zur Lebensplanung, zu ihren Wünschen.

I. Der Austausch mit sieben Roma-Frauen

Offenes und vertrauensvolles Gespräch dank der Übersetzung von Vanda und Greta

Dank Vanda und Greta, die nicht nur übersetzten, sondern auch Zwischenfragen stellten und mit ihren eigenen Geschichten die Frauen ermunterten, war das Eis schnell gebrochen. So erfuhren wir von den Großfamilien mit vielen Geschwistern und den zum Teil verworrenen Familienverhältnissen, wo Frauen mit ihren Männern und deren neuer Lebenspartnerin zusammenwohnen.

Außerdem wurde uns wiederholt klar, welches Privileg wir haben, dass wir 12 Jahre lang zu Schule gehen konnten. Die meisten der anwesenden Frauen waren lediglich ein bis zwei Jahre in der Schule, eine immerhin 4 Jahre und eine aber auch gar nicht.

Reger Austausch beim Thema Beziehung

Für alle am spannendsten war wohl die Frage nach den Beziehungen, denn bei diesem Thema entstand ein reger Austausch. Wir Praktikantinnen bzw. Volontärinnen zeigten Bilder von unseren verflossenen oder aktuellen Partnern, erzählten, wann wir unseren ersten Freund hatten und erklärten, dass wir aktuell noch keine Kinder möchten.

Frauen im Gespräch

Fast alle Frauen stammen aus äußerst prekärem Lebensumfeld.

Mit 28 Jahren noch keine Mütter?

Dass wir mir 23 bis 28 noch keine (mehrfachen) Mütter waren, erstaunte die Frauen schon einigermaßen. Eine war mit 35 bereits Großmutter. Sie empfahlen uns, nicht mehr zu lang zu warten. Ein uns in Erinnerung gebliebener Satz war: „Auch wenn der Mann fort ist, dann hat man wenigstens ein Kind.“ Dieser Ausspruch verdeutlicht einmal mehr die Unterschiede zwischen unseren Lebensumständen. Ich beispielsweise bin nach meiner Scheidung im vergangenen Jahr äußerst froh, dass ich noch kein Kind habe.

Fünf der sieben anwesenden Roma-Frauen waren im Alter von 11 Jahren in festen Beziehungen

Wir erfuhren zudem, dass alle der anwesenden Frauen mit 11 oder 12 Jahren in einer festen Partnerschaft waren. Die Frauen wurden nicht in Beziehungen gedrängt, das passierte auf eigenen Wunsch nach einer teils sehr kurzen „Beschnupperung“ bereits von wenigen Tagen.
Eine Partnerschaft gilt dann als besiegelt, wenn beide Elternteile der Beziehung zustimmen und das junge Paar meist im Haus oder im Umfeld der Eltern des Jungen einzieht. Die junge Frau ordnet sich der Hierarchie im Haushalt des Jungen unter.

Kinder verstehen nicht, was ihr Tun bedeutet

Dabei kann der erste Schritt sowohl von dem Mädchen als auch dem Jungen gemacht werden. Eine offizielle Ehe vor dem Gesetz besteht in den seltensten Fällen. Die Beziehungen werden eingegangen in einem Alter, in dem die Kinder noch gar nicht richtig begreifen, was das eigentlich bedeutet.

Keine der Frauen hatte einen persönlichen Wunsch für sich selbst

Es wird so gemacht, weil das die Roma schon immer so gemacht haben. Frühe Ehen gehören zum kulturellen Erbe. Und Kinder scheinen die einzige Erfüllung zu sein. Denn nach der Frage, was sich die Frauen für die Zukunft wünschen, war die einzige Antwort: „Alles Gute und Gesundheit für meine Kinder.“ Keine der Frauen hatte einen persönlichen Wunsch für sich selbst.

Mit knapp 30 Jahren 5 Kinder

Die Kindheit unserer Gesprächspartnerinnen war auch denkbar kurz. Mit 15 oder 16 haben sie ihr erstes Kind bekommen. Es ist keine Seltenheit, dass eine knapp dreißigjährige Frau bereits 5 Kinder hat. Ich selbst bin 28 und momentan ganz froh, dass ich noch die Freiheit habe, zu tun, was ich möchte, ohne, dass ein Kind meinen Tagesablauf bestimmt.

Kriterien der Partnerwahl: Ein Mann muss gut aussehen, nicht trinken und nicht schlagen

Uns interessierte auch, nach welchen Kriterien die Partnerwahl denn stattfindet. Mit Erschrecken mussten wir erfahren, dass ein Mann lediglich gut aussehen muss, nicht trinken und nicht gewalttätigt sein sollte.

Natürlich stimmen wir dem zu, aber um sich zu verlieben, gehört doch aus unserer Perspektive noch einiges mehr dazu. Aber wir hatten ja auch alle schon den ein oder anderen Partner und konnten so langsam herausfinden, was wir wollen und was auch nicht.

Ein reger und interessanter Austausch

Da wir uns bei dem Thema Beziehungen so intensiv ausgetauscht haben, blieb keine Zeit mehr, um über Freizeit oder auch das prekäre Thema Sex zu sprechen. Nichtsdestotrotz war es ein gutes Gespräch, alle haben sich beteiligt. Die Roma-Frauen haben etwas über uns und unser Leben erfahren und gesehen, was ihre Töchter machen können, wenn sie in die Schule gehen und wir haben unseren Horizont erweitert über das Leben der Roma-Frauen in Cidreag.

II. Der Austausch mit BuKi-Jugendlichen aus der ältesten Gruppe

Einen ähnlichen Austausch haben wir am nächsten Tag auch im Nachmittagsprogramm mit der Teenager-Gruppe durchgeführt. Hierbei standen vor allem die Themen Bildung, Berufswünsche, Freizeit, Beziehungen und tatsächlich auch Sex im Vordergrund.

Wir freuten uns über die rege Interaktion mit den 2 Jungs und 5 Mädchen

Sie waren im Alter von 11 bis 14 Jahren. Sie erzählten uns ganz offen, wie sie leben.

Besonders traf uns die Geschichte von einem Mädchen, welches mit 4 Geschwistern, ihrer Mutter und ihrem Vater und dessen neuen Frau zusammenwohnt. Sie erzählte zudem, dass sie so lang zur Schule gehen will, wie ihr Vater sie lässt. Oftmals scheinen die Väter etwas skeptischer zu sein, als die Mütter im Hinblick auf die Schulbildung.

Ein anderer Junge hingegen lebt bei seiner Großmutter zusammen mit seinen zwei Schwestern, da beide Eltern im Ausland zum Arbeiten sind.

Alle Mädchen wollen nicht so früh heiraten

Richtig überrascht waren wir auch, dass alle Mädchen sich einig waren, dass sie nicht so früh heiraten wollten und sich auch mit dem Kinderbekommen noch Zeit lassen wollen. Ihnen ist bewusst, dass sie dann nicht mehr Kind sein können und sich um alles kümmern müssen.

Nur zwei der Mädchen empfanden das Hausfrausein als erstrebenswert, andere hatten konkrete Berufswünsche wie beispielsweise Köchin, Nageldesignerin oder Verkäuferin. Auch die Jungs wollen ihre Schule abschließen. Berufswünsche wie Taxifahrer und Polizist lassen hoffen, dass ihnen keine Zukunft als Tagelöhner auf den Feldern um Cidreag bevorsteht.

Ein Schulabschluss ist nur im 40 km entfernten Satu Mare möglich

Um allerdings die Schule beenden zu können, müssen sie nach der Grundausbildung in Cidreag noch ein paar Jahre in die weiterführende Schule in der nächsten großen Stadt Satu Mare. Dies ist allerdings nicht so einfach, denn nicht alle Eltern stehen dem positiv gegenüber. Ein Kind, was weiter zur Schule geht, kostet eher Geld und verdient keines.

Trotz Diskriminierung wollen die Kinder aus Cidreag weg

Außerdem haben es Roma-Kinder aufgrund von Mobbing und Diskriminierung oft nicht leicht. Bisher haben die Kids oft nur einen sehr kleinen Radius rund um ihren Heimatort gesehen. Die meisten wissen allerdings jetzt schon, dass sie fort wollen aus Cidreag. Das können wir gut nachvollziehen. Der kleine Ort bietet für einen jungen Menschen einfach keine Perspektive. Es ist schön, zu hören, dass die Kids Zukunftswünsche haben, die über die „Stadtmauern“ hinausgehen.

Keine Hobbies

Im weiteren Verlauf des Gesprächs wurde uns auch die einseitige und für unsere Ohren trostlose Freizeitgestaltung der Roma-Kinder außerhalb von der Betreuung durch BuKi bewusst. Hat ein Kind ein Handy, dann spielt es viel damit oder chattet per Facebook mit Freunden. Ansonsten nannten die Kinder vor allem Essen und Schlafen als Hobbies. Das war schon einigermaßen schockierend, schließlich sind das Grundbedürfnisse.

Beim Thema Beziehungen ging ein Raunen durch die Gruppe.

Nichts anderes haben wir erwartet und doch gingen die Teenager auf unsere Fragen ein und antworteten offen. Zudem waren sie sehr interessiert, unsere Geschichten und Erfahrungen zu hören.

Auch, wenn keiner im Raum zeitig heiraten möchte, verliebt sind doch einige und es gab heiteres Gekicher. Offiziell zusammen sind die Verliebten aber nicht, denn das würde kein gutes Licht vor allem auf die Mädchen werfen, wenn sie dann nicht bald heiraten würden. Deshalb müssen vor allem die Mädchen vorsichtig sein wegen ihres Rufes.

Keine Gespräche mit den Eltern

Gespräche mit den Eltern finden eher nicht statt. Wenn der Vater sagt: „Mach keine dummen Dinge.“, dann wissen die Kids, dass damit Sex gemeint ist. Was das aber alles konkret bedeutet, das sagen die Eltern nicht. Greta und Vanda möchten den Teenagern vermitteln: „Sex ist nicht dumm. Man muss nur wissen, wann, wie, mit wem und wie Verhütung richtig geht.“

Also haben wir auch alle ausgepackt, wann wir unseren ersten Freund hatten und wie lange wir gewartet haben bis zu unserm Ersten Mal. Wir legten den Teenageren nahe, dass man sich Zeit nehmen sollte.

Großes Interesse beim Thema Verhütung – Fragebox wird aufgestellt

Dann haben wir sogar über Verhütung gesprochen und kurz verschiedene Möglichkeiten angerissen. Das Interesse war groß und die Aufmerksamkeit ganz bei uns. Es wurde klar, dass viele Fragen ungefragt blieben und deshalb soll demnächst eine Fragenbox aufgestellt werden, wo die Teenager sich aktiv einbringen können und das anonym.

BuKi bietet einen Rahmen Themen wie Verhütung, Schwangerschaft und Menstruation anzusprechen

Insgesamt wurde der Austausch gut angenommen und positiv bewertet. Die Kids haben sich getraut, Fragen zu stellen, die sie bisher für sich behalten haben und sie haben viele neue Themen in den Raum geworfen, die sie noch interessieren wie beispielsweise Menstruation und Schwangerschaft. Diese sollen im Nachmittagsprogramm nach und nach mit behandelt werden. Aber nicht nur die Teenager sind dankbar für den Austausch, auch die Eltern sind froh, dass im BuKi-Haus die für sie unangenehmen Themen angesprochen werden.

Wir hoffen, dass ein Austausch in dieser Form noch oft stattfindet und dazu beiträgt, dass die nächste Generation Mädchen nicht bereits mit 11 Jahren heiratet und mit 15 Jahren Mutter wird. Dabei spielen die Mütter eine besondere Rolle. Das Wissen über Beziehungen, Sex und Verhütung kann dazu beitragen, dass die Kids in Cidreag ein paar mehr Jahre Kindheit und vor allem auch ein paar mehr Jahre Bildung erhalten können. Dies kann vor allem für die Mädchen eine echte Chance sein, um sich persönlich zu entwickeln und mehr zu sein, als nur Mutter.